INTERVIEWS
Ellen Schernikau
Ellen Schernikau, Mutter des Schriftstellers Ronald M. Schernikau, wurde 1936 in Magdeburg geboren. Sie ist gelernte Krankenschwester und siedelte mit ihrem kleinen Sohn 1966 in die BRD über. Noch vor der Wiedervereinigung zog es sie zurück in den Osten, 1989 ließen sich beide wieder in die DDR einbürgern. Ronald M. Schernikau porträtierte seine Mutter und ihr Leben zwischen den zwei deutschen Staaten auf beeindruckende Weise in "Irene Binz. Befragung".
Ellen Schernikau tritt im "Theater der Revolution" als Steffi Spira auf.
Ellen Schernikau glaubt fest an einen neuen sozialistischen Versuch. Wie würde sich dieser von der DDR unterscheiden? Und: was wäre ihr auf einer großen Demonstration heute wichtig? Bildung, sagt sie.
Ellen Schernikau fand einiges schlecht und vieles gut an der DDR. Sie wollte gern Teil einer Reform des Sozialismus sein, doch die Vereinigung kam schneller. Wie fühlte sich diese Übergangszeit für sie und ihren Sohn Ronald als frisch Zurückgekehrte an?
1966 flieht Ellen Schernikau mit ihrem sechsjährigen Sohn Ronald im Kofferraum eines Diplomatenautos in die Bundesrepublik. Die Flucht begreift sie als "Privatangelegenheit", nicht als politische. Doch so richtig kam sie nie im Westen an, sagt sie.
Jens Reich
Bürgerrechtler des Neuen Forums und Molekularbiologe
Jens Reich redete am 4.11.89 als Bürgerrechtler des Neuen Forums. Zunächst wollte das Neue Forum gar nicht auftreten, aus Angst vor einer Vereinnahmung der Veranstaltung durch die SED. Die Demonstration erinnert er im Gespräch als Theaterinszenierung, mit den Demonstrant*innen als klassischem Chor. Es sei der „Schwanengesang der DDR“ gewesen, geprägt von Selbstermächtigung - im Gegensatz zum zufälligen 9.11.89. Selbstermächtigung mit Grenzen allerdings, denn keine*r der Redner*innen habe die revolutionäre Energie wirklich kanalisiert – besonders nicht Heiner Müller, der laut Jens Reich der einzige gewesen wäre, der dies vermocht hätte.
Jens Reich beschreibt die Demonstration vom 4.11.89 als "Show, wie sie sich Bert Brecht nicht besser hätte ausdenken können". Es sei zivil zugegangen, "Hassplakate, die wir jetzt dauernd sehen" habe es nicht gegeben. Die Akteure waren jedoch, anders als das Volk, in einer negativen Spannung. Reich erinnert sich an die "verklemmte Grabesstimmung" in dem Cafe hinter der Tribüne: Heiner Müller trank verdrossen Whiskey und Markus Wolf wirkte "wie ein begossener Pudel".
"Großes Theater" sei der 4.11.89 gewesen, der "schönste Tag der DDR" und gleichzeitig ihr „Schwanengesang“.
Nach dieser Aufbruchserfahrung hätten sich die Menschen im Alltag anders verhalten: man habe sich offen und direkt in die Augen geschaut. Bis zum 9.11. - nach dem Mauerfall sei dieser offene Blickkontakt wieder vorbei gewesen.
Jens Reich zeigt sich heute "äußerst besorgt", dass wir "nicht ernsthaft an die Zukunft denken". Es gebe nur Lippenbekenntnisse zur globalen Krise des Planeten. 1989 waren sich alle einig "So kann es nicht weitergehen!", heute sieht Jens Reich nicht, dass es diesen allgemeinen Konsens gebe.
Hans Narva
Musikalischer Leiter von 4-11-89 Theater der Revolution
Der Musikkritiker Linus Volkmann über Hans Narva: "Der Multi-Instrumentalist Hans Narva gründete noch zu DDR-Zeiten Herbst in Peking - eine Band, die vom offiziellen Spielbetrieb der Kulturbehörde ausgeschlossen war. Mit „(Wir leben in der) Bakschisch-Republik“ geht ein ganz zentrales Stück der Wendejahre auf ihr Konto. In den Neunzigern prägte Narva mit den Inchtaboktables dann weit mehr als nur die Indieszene."
Hans Narva tritt im "Theater der Revolution" als Stefan Heym auf in einer musikalischen Performance.
Hans Narva erzählt, wie er wegen "Aufruf zur Meuterei"als 15jähriger zum ersten Mal in den Knast kam, warum er aus der DDR floh und dass er enttäuscht war, dass der Westen nicht wie erwartet nur aus "geiler Musik, geilen Büchern, geilem Essen" bestand.
"Zittrig und aufgeregt" hat Hans Narva die Demo am 4.11.89 im Westfernsehen verfolgt. Seine vorherrschende Erinnerung: "grau und lethargisch". Er habe viel mehr Action und Aufruhr erwartet, aber vermutet, dass Panzer in allen Seitenstraßen standen - schließlich war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens noch nicht lange her.
1989 war Hans Narva ein Fan des Runden Tischs, er hätte sich eine Lösung gewünscht, die Reisefreiheit, wirtschaftliche Möglichkeiten und Anstand verbindet - obwohl er die in der DDR kaum erlebt hat. Für eine heutige Demo liegen ihm der Zustand der Welt - er unterstützt die Fridays for Future Bewegung - Anstand im Umgang mit Menschen, Kinder und der Kampf gegen Nazis am Herzen.
Ronald Freytag
Zunächst war am 4.11.1989 eine Vertreter*in der Studierenden als Redner gar nicht vorgesehen. Erst ganz kurzfristig gaben die Veranstalter*innen grünes Licht, so dass Ronald Freytag für den Studierendenrat der HU als letzter der Redner*innen auf die Bühne kam. Besonders wichtig war es ihm damals, dass die Studierendenschaft absolut unabhängig von der SED sein sollte und sich basis- bzw. rätedemokratisch organisiert. Diese Art der Selbstverwaltung bezeichnet er heute als „naive Idee von politisch Unerfahrenen“.
Am 4.11.1989 erinnert er vor allem die Kluft zwischen den intellektuellen Redner*innen, die den Sozialismus reformieren wollten, und den Demonstrant*innen, die offene Grenzen und ein Ende der DDR wünschten.
Wie erinnert Ronald Freytag die Demo am 4.11.89 heute? Wie bewertete er sie damals? Hatte sie seiner Meinung nach historische Folgen?
Im November 1989 sprach Ronald Freytag auf dem Alexanderplatz über Selbstverwaltung und die Befreiung der Studierenden von dem langen Arm der SED. Was wären seine Themen für eine Demo im November 2019?
Ronald Freytag war am 4.11.89 Sprecher des Studierendenrates der Humboldtuniversität zu Berlin. Als letzter hat er die Bühne betreten, als kürzester gesprochen. Wie hat er den Tag und seine Rede erlebt?